Getreidemarkt 2022/2023

Schwierige Einflüsse

Bernhard Chilla, Marktanalyst bei der AGRAVIS Raiffeisen AG, blickt auf die aktuellen, weltweiten Entwicklungen und deren Auswirkungen auf den deutschen Getreidemarkt im Wirtschaftsjahr 2022/23.

Die nachfolgende Analyse erschien im Oktober 2022 auch in der Land & Forst.

Krieg in der Ukraine, Sanktionen gegen Russland, die auch die Agrarmärkte zu treffen scheinen. Weltweit steigende Energie- und Lebensmittelkosten. Rekordpreise für Weizen, Roggen und Gerste. Zunehmende Inflation, wachsende Sorgen vor einer globalen Rezession. Angespannte Logistik in vielen wichtigen Exportländern. Erwartete hohe Ertragsverluste beim Körnermais in der Europäischen Union. Rekordproduktion in Russland, Exporteinschränkungen in der Ukraine. Eingriffe von Regierungen in die Agrarmärkte über Exportbeschränkungen oder Exportstopps. Viele Themen bewegen weltweit den Getreidemarkt und erschweren Prognosen über künftige Marktentwicklungen. Auch der deutsche Getreidemarkt konnte und kann sich den aktuellen Entwicklungen nicht entziehen.
Auf die Versorgungslage auf dem Getreidemarkt blickend ist nicht nur die Angebotssituation betroffen, sondern auch das Nachfrageverhalten. Der Einflussfaktor „Nachfrage“ dürfte den deutschen Getreidemarkt 2022/23 stärker beeinflussen als der Faktor „Angebot“.

Gute Getreideernte 2022

Fangen wir aber mit den positiven Entwicklungen an. Die deutsche Getreideernte 2022 war – wenn wir den Ertragszuwachs für Gerste und Weizen betrachten – nach langer Zeit endlich einmal wieder gut. Nur die Weizenqualität scheint in diesem Jahr tendenziell schwächer zu sein – während sich die Futtergerstenqualität im Vergleich zu 2021 deutlich verbessert hat. Auch fällt auf, dass innerhalb der EU nicht nur Deutschland, sondern auch die baltischen Staaten sowie Schweden, Dänemark und Polen in diesem Jahr eine höhere Getreideproduktion einfahren konnten als im Vorjahr. Für fast alle anderen wichtigen EU-Staaten aber werden hohe witterungsbedingte Ernteverluste erwartet, vor allem in Spanien, Frankreich, Ungarn und Rumänien. Die Ernteverluste dürften vor allem den Körnermais betreffen, doch auch die EU-Weizenproduktion 2022/23 fiel nicht so hoch aus wie 2021/22. Gesamt gesehen dürfte die EU-Getreideproduktion 2022/23 trotz Produktionszuwachs im Norden und der Mitte der EU weit unter der Vorjahresmenge liegen. So könnte die 2022/23er EU-Getreideproduktion (einschließlich England) so gering ausfallen wie nie zuvor in den vergangenen zehn Jahren. Unter normalen Marktgegebenheiten wäre das eine große Chance für den deutschen Getreidemarkt, um entstandene Angebotslücken in anderen EU-Staaten zu füllen.

Blick auf die europäischen Märkte

Doch vorerst wirken auf dem EU-Getreidemarkt andere Faktoren, allen voran die Situation in der Ukraine. Das ukrainische Getreideangebot 2022/23 dürfte als Folge des dortigen Krieges im Vergleich zum Vorjahr kräftig fallen. Dennoch liegt in der Ukraine noch viel Getreide aus der Ernte 2021 auf Lager, das zwischen März und Juli 2022 nicht exportiert werden konnte. Seit der ukrainisch-russischen Einigung über einen „Exportkorridor“ steigen die ukrainischen Getreideausfuhren seit August kräftig an und gelangen größerenteils auch in die EU. Zwar erhöht sich entsprechend das aktuelle Getreideangebot, doch eine wesentliche Unsicherheit für die künftige Marktentwicklung ergibt sich eben aus diesem „Exportkorridor“ – am 20. November nämlich läuft die Vereinbarung aus. Und die große Frage ist: Kann die Ukraine danach weiter Getreide exportieren wie bisher?

Rekordproduktion in Russland

Die russische Landwirtschaft unterdessen hat 2022/23 in punkto Weizen und Gerste eine neue Rekordproduktion eingefahren (Weizen: gut 20 Millionen Tonnen mehr als im Vorjahr. Gerste: gut 4 Millionen Tonnen mehr als im Vorjahr). Wegen bestehender Sanktionen aber kann Russland dieses Getreide nicht in großen Mengen exportieren. Entsprechend baut sich im Land ein zunehmender Angebotsdruck auf, und weltweit versuchen Länder nun, russisches Getreide zu kaufen, das aktuell weit unter dem Preisniveau Deutschlands liegt.
Für den EU-Markt ist bis Ende 2022 zudem einzurechnen, dass Brasilien in diesem Sommer eine sehr gute Maisernte eingefahren hat. Die brasilianischen Maisexporte liegen derzeit weit über der Vorjahresmenge – und ein großer Abnehmer ist unter anderem die EU; sie führt mehr Mais aus Brasilien ein als im Vorjahr.

Konzentration auf EU-Binnenmarktnachfrage

Konzentrieren wir uns nun stärker auf die Nachfrage. Die Weizenausfuhren aus der Europäischen Union – auch aus Deutschland – liegen bislang weit über der Vorjahresmenge. Darum konnte EU-Weizen zumindest zu einem Teil die zeitweise verringerten ukrainischen Mengen ausgleichen. Das sind die positiven Nachrichten. Die Frage ist nun aber: Kann die EU ihr Exporttempo halten und die künftige Versorgungslage entsprechend verknappen? Wie erwähnt ist russischer Weizen derzeit deutlich wettbewerbsfähiger und dürfte, solange die internationale Nachfrage nicht kräftig anzieht, eher gefragt sein als deutscher Weizen. Damit konzentriert sich vorerst alles auf die EU-Binnenmarktnachfrage. Immerhin dürfte deutsches Getreide im EU-Binnenmarkt stärker gefragt sein, und zwar wegen des witterungsbedingt hohen Angebotsrückgangs in wichtigen Importländern wie Spanien oder Italien. Diese können ihre Bedarfslücken nicht aus anderen EU-Ländern wie Frankreich oder Ungarn decken, da auch dort die Produktionsmengen im Vergleich zum Vorjahr deutlich geringer ausgefallen sind.

Rückläufige Gerstenexporte

Die Gerstenausfuhren aus der EU – und auch aus Deutschland – sind unterdessen aufgrund fehlender Nachfrage aus China rückläufig. Steigt die chinesische Nachfrage wieder, würde das auch die EU-Versorgungslage deutlich verändern – doch aktuell scheint China nicht die Gerstenmengen zu benötigen wie in den Jahren zuvor. Anders als beim Weizen oder beim Körnermais steht dem EU-Markt darum in diesem Erntejahr mehr Gerste zur Verfügung als im Vorjahr. Die Binnennachfrage innerhalb der Europäischen Union nach Getreide dürfte somit in den kommenden Monaten zum wichtigsten Einflussfaktor werden. Doch um Waren von A nach B zu bringen, braucht es Transportmittel. Und hier kommt ein weiterer wichtiger Einflussfaktor auf unsere Märkte ins Spiel. Zwar sind die Frachtraten im Vergleich zu den Vorjahren stark gestiegen, doch LKW-Fahrer sind nach wie vor rar. Profitieren dürften darum in Deutschland vorwiegend verkehrsgünstig gelegene Standorte – und das wiederum dürfte zu Preisverwerfungen führen. Kurz: Wo sich Ware auf kürzeren Wegen schneller und sicherer transportieren lässt, dürfte ein lohnenderer Preis zu erzielen sein als dort, wo Ware entsprechend risikoreicher über weitaus längere Strecken bewegt werden muss. Natürlich ist so etwas nicht neu, doch in den kommenden Monaten dürfte der Wettbewerb hier deutlich härter werden.

Getreidemärkte beeinflussen Produktions- und Lebensbereiche

Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass sich rund um den Getreidemarkt sehr viele Fragen in den kommenden Monaten nicht so einfach beantworten lassen. Die EU-Getreideversorgungsbilanz 2022/23 dürfte aufgrund der erwarteten hohen Ertragsverluste beim Körnermais äußerst eng ausfallen – und vielleicht sogar so eng versorgt sein wie nie zuvor in den vergangenen 20 Jahren. Doch eine Knappheit kann nur entstehen, wenn die Nachfrage zumindest das Niveau der Vorjahre hält. Aktuell scheint die Nachfrage wegen der weltweiten Sorge vor einer Rezession eher rückläufig zu sein. Doch das kann sich unvermutet auch wieder ändern. Die Nachfrage nach Getreide, auch in Deutschland, wird 2022/23 so oder so zu einem wesentlich wichtigen Einflussfaktor auf bestimmte Produktions- und Lebensbereiche werden.

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